Umsetzung des BTHG:
Das Gesamtplanverfahren
1. Was ist das Gesamtplanverfahren?
Menschen mit Behinderungen soll die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden. Um das zu erreichen, kommt die sogenannte Eingliederungshilfe zum Tragen, die die Leistungen erfasst, mithilfe derer dieses Ziel erreicht werden kann. Mithilfe des Gesamtplanverfahren sollen die notwendigen, unterstützenden Leistungen ermittelt, geplant, gesteuert und dokumentiert sowie ihre Wirkung regelmäßig überprüft werden. Der Leistungsberechtigte muss von Beginn an am Verfahren beteiligt sein.
Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) stellt dabei den Menschen selbst in den Mittelpunkt der Leistungsplanung: Der Leistungsberechtigte darf und soll seine Vorstellungen äußern und aktiv an der Leistungsplanung teilnehmen. Wie das konkret umgesetzt werden soll, erklären wir im weiteren Verlauf des Artikels.
2. Gesetzliche Grundlagen
Vom 01.01.2018 bis zum 31.12.2019 regelt § 141 SGB XII die gesetzlichen Bestimmungen zur Gesamtplanung. Hierbei handelt es sich allerdings um ein Übergangsrecht. Ab dem 01.01.2020 werden diese Bestimmungen durch § 117 ff. SGB IX abgelöst.
§ 141 SGB XII: Gesamtplanverfahren
„(1) Das Gesamtplanverfahren ist nach den folgenden Maßstäben durchzuführen:
1. Beteiligung der Leistungsberechtigten in allen Verfahrensschritten, beginnend mit der Beratung,
2. Dokumentation der Wünsche der Leistungsberechtigten zu Ziel und Art der Leistungen,
3. Beachtung der Kriterien
a) transparent,
b) trägerübergreifend,
c) interdisziplinär,
d) konsensorientiert,
e) individuell,
f) lebensweltbezogen,
g) sozialraumorientiert und zielorientiert,
4. Ermittlung des individuellen Bedarfes,
5. Durchführung einer Gesamtplankonferenz,
6. Abstimmung der Leistungen nach Inhalt, Umfang und Dauer in einer Gesamtplankonferenz unter Beteiligung betroffener Leistungsträger.
(2) Am Gesamtplanverfahren wird auf Verlangen des Leistungsberechtigten eine Person seines Vertrauens beteiligt.
(3) Bestehen im Einzelfall Anhaltspunkte für eine Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch, wird die zuständige Pflegekasse mit Zustimmung des Leistungsberechtigten vom Träger der Sozialhilfe informiert und muss am Gesamtplanverfahren beratend teilnehmen, soweit dies zur Feststellung der Leistungen nach § 54 erforderlich ist. Bestehen im Einzelfall Anhaltspunkte, dass Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel erforderlich sind, so soll der Träger dieser Leistungen mit Zustimmung der Leistungsberechtigten informiert und am Gesamtplanverfahren beteiligt werden, soweit dies zur Feststellung der Leistungen nach § 54 erforderlich ist.
(4) Bestehen im Einzelfall Anhaltspunkte für einen Bedarf an notwendigem Lebensunterhalt, soll der Träger dieser Leistungen mit Zustimmung der Leistungsberechtigten informiert und am Gesamtplanverfahren beteiligt werden, soweit dies zur Feststellung der Leistungen nach § 54 erforderlich ist.“
3. Ablauf des Gesamtplanverfahrens
Im Sozialgesetzbuch werden sechs Maßstäbe genannt, nach denen das Gesamtplanverfahren durchgeführt werden sollte. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) unterteilt das Verfahren vereinfacht in vier Schritte. Zunächst einmal muss die Bedarfsermittlung erfolgen. Dann sollen die Leistungen festgestellt werden. Nach der Gesamtplankonferenz soll ein Gesamtplan erstellt werden, der als Grundlage für den Erlass des Verwaltungsaktes dient. Zu guter Letzt kann noch eine Teilhabezielvereinbarung unterzeichnet werden, die aber nicht zwingend ein eigenes Dokument darstellen muss.
3.1 Beratung und Bekanntgabe des Bedarfs
Der Leistungsberechtigte kann sich schon im Vorfeld des Verfahrens beraten lassen und informieren. Dafür gibt es auch ein vom Bund gefördertes Netzwerk von Beratungsstellen, die träger- und leistungserbringerunabhängig sind. Dieses Netzwerk ist momentan im Aufbau. Menschen mit Behinderungen sowie deren Angehörige können sich von den Beratungsstellen kostenfrei informieren lassen.
Angeboten wird auch das sogenannte „Peer Counseling“: Beratung von Menschen mit Behinderung durch Menschen mit Behinderung. Berater mit Behinderung können ihre eigenen Erfahrungen weitergeben. So soll gewährleistet werden, dass individuelle Lösungen nah am Menschen gefunden werden.
Mithilfe ausgefüllter Antragsvordrucke oder einer anderen Form der Mitteilung kann der Leistungsbedarf bekanntgegeben werden. Ab Januar 2020 muss der Leistungsberechtigte dann zwingend einen Antrag auf Leistungserbringung stellen.
Generell sollte beachtet werden, dass häufig einige Unterlagen notwendig sind, damit der Bedarf angemeldet werden kann. Es gibt auch die Möglichkeit, ein Eilverfahren anzustoßen, bei dem schon vor Beginn der Gesamtplankonferenz Leistungen erbracht werden.
3.2 Bedarfsermittlung
Die Bedarfsermittlung ist Teil des Gesamtplanverfahrens. Sie wird nicht durch das Verfahren ersetzt. Da die Bedarfsermittlung die Voraussetzung für die Planung der Leistungen ist, muss an dieser Stelle besonders gründlich vorgegangen werden. Je sorgfältiger im Vorfeld die Bedarfe des Leistungsberechtigten ermittelt werden, desto passgenauer können die Leistungen zugeschnitten werden. So wird sichergestellt, dass der Leistungsberechtigte optimal unterstützt werden kann.
§ 142 SGB XII: Instrumente der Bedarfsermittlung (ab 2020 § 118 SGB IX n.F.)
„(1) Der Träger der Sozialhilfe hat die Leistungen nach § 54 unter Berücksichtigung der Wünsche des Leistungsberechtigten festzustellen. Die Ermittlung des individuellen Bedarfes erfolgt durch ein Instrument, das sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit orientiert. Das Instrument hat die Beschreibung einer nicht nur vorübergehenden Beeinträchtigung der Aktivität und Teilhabe in den folgenden Lebensbereichen vorzusehen:
1. Lernen und Wissensanwendung,
2. allgemeine Aufgaben und Anforderungen,
3. Kommunikation,
4. Mobilität,
5. Selbstversorgung,
6. häusliches Leben,
7. interpersonelle Interaktionen und Beziehungen,
8. bedeutende Lebensbereiche und
9. Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben.
(2) Die Landesregierungen werden ermächtigt, durch Rechtsverordnung das Nähere über das Instrument zur Bedarfsermittlung zu bestimmen.“
3.2.1 ICF – was ist das?
Die Instrumente für die Bedarfsermittlung müssen sich laut Bundesteilhabegesetz am ICF orientieren. ICF bedeutet „International Classification of Functioning, Disability and Health“. Im Deutschen heißt sie „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“.
Die ICF gehört zur WHO-Familie der Internationalen Klassifikationen. Sie klassifiziert die Folgen von Krankheiten in Bezug auf Körperfunktionen, Aktivitäten und Teilhabe. Für Kinder und Jugendliche gibt es die ICF-CY, die die Besonderheiten in der Entwicklung und in den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt.
3.2.2 Instrumente zur Bedarfsermittlung in den einzelnen Bundesländern
Laut Bundesteilhabegesetz können die Bundesländer die nähere Bestimmung eines Instruments zur Bedarfsermittlung durch Rechtsverordnung vornehmen. Zwingend erforderlich ist das nicht. Nicht alle Bundesländer haben bisher Schritte in diese Richtung unternommen.
Ausführlichere Informationen zu den Bedarfsermittlungsinstrumenten der einzelnen Bundesländer finden Sie in diesem Blogbeitrag: Bedarfsermittlungsinstrumente der einzelnen Bundesländer. Wir aktualisieren den Beitrag regelmäßig, wenn es neue Informationen gibt.
3.3 Gesamtplankonferenz und Leistungsfeststellung
Im Rahmen der Gesamtplankonferenz berät man sich über die Unterstützungsbedarfe und die entsprechenden Leistungen. An der Gesamtplankonferenz beteiligt sind der Träger der Eingliederungshilfe sowie andere beteiligte Leistungsträger und der Leistungsberechtigte selbst. Ziel der Gesamtplankonferenz ist es, die notwendigen Leistungen – Eingliederungshilfeleistungen sowie gegebenenfalls zusätzliche Leistungen für Grundsicherung und Pflege – so aufeinander abzustimmen, dass der Leistungsbedarf lückenlos gedeckt ist.
Innerhalb festgelegter Fristen muss der Eingliederungshilfeträger zusammen mit den anderen beteiligten Leistungsträgern darüber entscheiden, welche notwendigen, bedarfsdeckenden Leistungen erbracht werden sollen. Die Erkenntnisse aus der Gesamtplankonferenz dienen dabei als Grundlage.
3.4 Gesamtplan
Der Gesamtplan bedarf der Schriftform und sollte die Entscheidungen des Eingliederungshilfeträgers transparent machen. Festgelegt wird der Gesamtplan in der Regel für zwei Jahre. Nach Ablauf dieser zwei Jahre sollte er überprüft und fortgeschrieben werden.
Unter anderem müssen im Gesamtplan Informationen zum Leistungsberechtigten festgehalten werden: seine Aktivitäten, seine verfügbaren und aktivierbaren Ressourcen sowie Erkenntnisse aus gutachterlichen Stellungnahmen. Auch die Vorgehensweise bei der Bedarfsermittlung (eingesetzte Verfahren und Instrumente) sowie der tatsächlich ermittelte Bedarf und die daraus resultierenden Leistungen müssen dokumentiert sein. Außerdem können erreichbare und überprüfbare Teilhabeziele festgelegt werden.
Der Gesamtplan wird vom Leistungsberechtigten geprüft. Bei unrichtiger oder unvollständiger Dokumentation kann der Leistungsberechtigte eine Anpassung beziehungsweise Berichtigung des Gesamtplans fordern.
3.5 Leistungsbescheid
Auf Grundlage des Gesamtplans wird fristgerecht ein Leistungsbescheid erlassen, in dem die zu erbringende Leistung durch den Eingliederungshilfeträger festgestellt wird. Außerdem kann eine Teilhabezielvereinbarung geschlossen werden.
Empfehlung: Umsetzungsbegleitung BTHG
Auf der Seite https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/ wird über alle Fortschritte im Rahmen der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes informiert. Neben Antworten auf aktuelle Fragen finden sich hier auch Informationen zum Umsetzungsstand in den einzelnen Bundesländern sowie Rückblicke auf Veranstaltungen zum BTHG. Gefördert wird das Projekt durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
BTHG in leichter Sprache
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (kurz BMAS) erklärt das Bundesteilhabegesetz in leichter Sprache. Um zu dieser Version weitergeleitet zu werden, klicken Sie bitte auf den folgenden Link: Bundesteilhabegesetz in leichter Sprache.